Türchen 20
Verfasst: 20 Dez 2014, 06:50
20.
Es dämmerte bereits, als Sabine auf einmal aufsprang und aufgeregt nach Osten deutete. Eine massige, dunkle Rauchwolke stieg ein paar Kilometer entfernt in den Himmel und waberte in der unbewegten Luft.
Kurz darauf hörten wir Pferdehufe. Anija und Antoinette kehrten zurück. Es musste etwas passiert sein: Mein Rotschopf war blass und wirkte verstört. Anijas Gesicht dagegen zeigte grimmige Genugtuung.
„Was ist geschehen?“, fragte ich beunruhigt.
„Nichts“, sagte Antoinette.
„Die Mühle brennt“, sagte Anija.
Mehr war aus den beiden zunächst nicht herauszubekommen.
Da es schon fast dunkel war, beschlossen wir, erst am nächsten Morgen weiterzureiten. Wie üblich krochen Antoinette und ich unter eine Decke, Anija und Sabine teilten sich die andere.
Antoinette zitterte in meinen Armen. Aber erst, als sie Anija schnarchen hörte, begann sie stockend und flüsternd zu erzählen.
„Der Müller muss sie zusammen mit ihrer Tochter aus einem Zigeunerlager entführt haben. Was genau er den beiden angetan hat, habe ich nicht erfahren, aber es muss unvorstellbar grausam gewesen sein. Anijas Tochter hat das nicht überlebt, aber sie selbst konnte irgendwann fliehen.“
„Oh mein Gott“, murmelte ich entsetzt, „habt ihr die Mühle angesteckt?“
„Ja, aber zuvor hat sie den Müller auf das Mühlrad gebunden.“ Sie schauderte. „Bei jeder Umdrehung wurde er unter Wasser gedrückt. Anija ist völlig versteinert dabei gestanden und hat zugesehen, bis er ertrunken war. Es hat lange gedauert. Bestimmt hundert Mal hat ihn das Rad in die Tiefe gezogen und wieder emporgehoben, bevor er endlich tot war. Ich wollte das Ganze mit einem Messerstich abkürzen, aber sie hat es nicht zugelassen.“
„Glaubst du, dass er diese Grausamkeit verdient hat?“, fragte ich.
„Ja, das hat er!“, antwortete sie überzeugt, „trotzdem wird mich der Anblick wohl noch lange verfolgen.“
In dieser Nacht klammerte sie sich so fest an mich, dass ich kein Auge zu machte. Erst gegen Morgen ließ ihre Anspannung nach und sie glitt in einen unruhigen Schlummer.
In der Ferne sahen wir endlich die Stadtmauern von Straßburg auftauchen.
Anija brachte ihr Pferd zum Stehen.
„Hier werden sich unsere Wege wohl trennen müssen. Sabine und ich haben keine Lust, wieder im Kerker zu landen“, lächelte sie schief.
„Wo wollt ihr denn hin?“, fragte ich beunruhigt.
Sie machte eine vage Bewegung mit der Hand. „Erst einmal einigen Abstand zwischen das Hexenhaus, die Mühle und uns selbst bringen. Vielleicht ziehen wir nach Basel, oder weiter ins Italienische. Oder noch besser nach Osten – ins Banat, nach Ungarn. Ich weiß es noch nicht.“
„Gibt es eine Chance, dass du deine Leute findest? Und würden sie euch beide aufnehmen?“
„Ja, das hoffe ich“, antwortete sie, „dann hätten Sabine und ich wieder ein Zuhause.“
Wir umarmten uns, wünschten uns gegenseitig alles Gute. Auch wenn wir nicht lange zusammen gewesen waren, hatten wir doch einiges gemeinsam erlebt, und der Abschied fiel uns schwer.
Auch ein anderer Abschied rückte nun näher, an den ich gar nicht denken mochte: Bestimmt hatte ich nun in Straßburg meinen Auftrag zu erledigen – und dann müsste ich ins Jahr 2041 zurück. Ausgerechnet in dem Moment, als Anija und Sabine zwischen den Bäumen verschwanden, wurde mir klar, dass ich nicht mehr ohne Antoinette leben wollte.
Meine Auftraggeber verloren keine Zeit. Noch bevor wir das Stadttor erreicht hatten, preschte ein Reiter auf uns zu. „Pirmin von der Grün? Ich habe dringende Nachrichten für Euch!“
Er zog einen langen, schmucklosen Holzköcher aus seiner Satteltasche, dessen Enden sorgfältig versiegelt waren. Das bekannte Emblem des Planetensystems sprang mir entgegen. Ganz automatisch überprüfte ich die Siegel. Sie waren unversehrt.
Der Bote gab seinem Pferd die Sporen, kaum, dass ich den Köcher in Händen hielt, und preschte davon.
„Willst du den Behälter denn nicht öffnen und nachsehen, was darin ist?“, fragte Antoinette, die längst wieder als Mann verkleidet war.
Kopfschüttelnd schob ich die Röhre unter die Riemen meines Sattels.
Ich war auf einmal so müde. Die Jahrhunderte, die mich und Antoinette trennten, drückten wie ein ungeheures Gewicht auf meine Seele. Hier hatte ich nun den Auftrag. War er erledigt, musste ich zurückkehren und Antoinette für immer verlassen. Alles in mir sträubte sich dagegen.
Wir suchten uns eine kleine, saubere Herberge in der Stadt. Ich vertraute darauf, dass sich in meinem Auftragsmaterial Geld finden würde, mit dem wir die Miete bezahlen konnten.
Nach einem einfachen Abendessen, bei dem Antoinette nur lustlos auf ihrem Teller herumgestochert hatte, hockten wir trübsinnig in unserer Kammer.
Ich brach das Siegel auf und schüttelte den Inhalt auf das Bett.
Die meisten Papiere waren komplizierte Konstruktionszeichnungen, die sorgfältig auf Pergament gezeichnet waren. Bestimmt würde auch eine gründliche Überprüfung nicht verraten, dass sie im Jahr 2041 angefertigt worden waren.
Das Begleitschreiben dagegen war deutlich anspruchsloser:
„Auftrag der Kategorie A6, Relevanz 0-alpha, Priorität: Essenziell“, lautete die Kopfzeile. Mit anderen Worten: Die Durchführung hielt man für so wichtig, dass ich erst zurückkehren durfte, wenn der Auftrag vollständig ausgeführt war. Sollte ich scheitern, würde ein anderer Agent gesandt werden. Im Zweifelsfall würde man mich aus dem Weg räumen, um die Ausführung sicherzustellen.
Meine Chefs hielten das Gelingen des Vorhabens für so wichtig, dass ein Scheitern vermutlich verheerende Folgen für das 21. Jahrhundert haben würde.
Na, toll! Hätte man mich vorab informiert, hätte ich wenigstens eine gute Gehaltserhöhung herausschlagen können – oder zumindest eine Prämie.
Es dämmerte bereits, als Sabine auf einmal aufsprang und aufgeregt nach Osten deutete. Eine massige, dunkle Rauchwolke stieg ein paar Kilometer entfernt in den Himmel und waberte in der unbewegten Luft.
Kurz darauf hörten wir Pferdehufe. Anija und Antoinette kehrten zurück. Es musste etwas passiert sein: Mein Rotschopf war blass und wirkte verstört. Anijas Gesicht dagegen zeigte grimmige Genugtuung.
„Was ist geschehen?“, fragte ich beunruhigt.
„Nichts“, sagte Antoinette.
„Die Mühle brennt“, sagte Anija.
Mehr war aus den beiden zunächst nicht herauszubekommen.
Da es schon fast dunkel war, beschlossen wir, erst am nächsten Morgen weiterzureiten. Wie üblich krochen Antoinette und ich unter eine Decke, Anija und Sabine teilten sich die andere.
Antoinette zitterte in meinen Armen. Aber erst, als sie Anija schnarchen hörte, begann sie stockend und flüsternd zu erzählen.
„Der Müller muss sie zusammen mit ihrer Tochter aus einem Zigeunerlager entführt haben. Was genau er den beiden angetan hat, habe ich nicht erfahren, aber es muss unvorstellbar grausam gewesen sein. Anijas Tochter hat das nicht überlebt, aber sie selbst konnte irgendwann fliehen.“
„Oh mein Gott“, murmelte ich entsetzt, „habt ihr die Mühle angesteckt?“
„Ja, aber zuvor hat sie den Müller auf das Mühlrad gebunden.“ Sie schauderte. „Bei jeder Umdrehung wurde er unter Wasser gedrückt. Anija ist völlig versteinert dabei gestanden und hat zugesehen, bis er ertrunken war. Es hat lange gedauert. Bestimmt hundert Mal hat ihn das Rad in die Tiefe gezogen und wieder emporgehoben, bevor er endlich tot war. Ich wollte das Ganze mit einem Messerstich abkürzen, aber sie hat es nicht zugelassen.“
„Glaubst du, dass er diese Grausamkeit verdient hat?“, fragte ich.
„Ja, das hat er!“, antwortete sie überzeugt, „trotzdem wird mich der Anblick wohl noch lange verfolgen.“
In dieser Nacht klammerte sie sich so fest an mich, dass ich kein Auge zu machte. Erst gegen Morgen ließ ihre Anspannung nach und sie glitt in einen unruhigen Schlummer.
In der Ferne sahen wir endlich die Stadtmauern von Straßburg auftauchen.
Anija brachte ihr Pferd zum Stehen.
„Hier werden sich unsere Wege wohl trennen müssen. Sabine und ich haben keine Lust, wieder im Kerker zu landen“, lächelte sie schief.
„Wo wollt ihr denn hin?“, fragte ich beunruhigt.
Sie machte eine vage Bewegung mit der Hand. „Erst einmal einigen Abstand zwischen das Hexenhaus, die Mühle und uns selbst bringen. Vielleicht ziehen wir nach Basel, oder weiter ins Italienische. Oder noch besser nach Osten – ins Banat, nach Ungarn. Ich weiß es noch nicht.“
„Gibt es eine Chance, dass du deine Leute findest? Und würden sie euch beide aufnehmen?“
„Ja, das hoffe ich“, antwortete sie, „dann hätten Sabine und ich wieder ein Zuhause.“
Wir umarmten uns, wünschten uns gegenseitig alles Gute. Auch wenn wir nicht lange zusammen gewesen waren, hatten wir doch einiges gemeinsam erlebt, und der Abschied fiel uns schwer.
Auch ein anderer Abschied rückte nun näher, an den ich gar nicht denken mochte: Bestimmt hatte ich nun in Straßburg meinen Auftrag zu erledigen – und dann müsste ich ins Jahr 2041 zurück. Ausgerechnet in dem Moment, als Anija und Sabine zwischen den Bäumen verschwanden, wurde mir klar, dass ich nicht mehr ohne Antoinette leben wollte.
Meine Auftraggeber verloren keine Zeit. Noch bevor wir das Stadttor erreicht hatten, preschte ein Reiter auf uns zu. „Pirmin von der Grün? Ich habe dringende Nachrichten für Euch!“
Er zog einen langen, schmucklosen Holzköcher aus seiner Satteltasche, dessen Enden sorgfältig versiegelt waren. Das bekannte Emblem des Planetensystems sprang mir entgegen. Ganz automatisch überprüfte ich die Siegel. Sie waren unversehrt.
Der Bote gab seinem Pferd die Sporen, kaum, dass ich den Köcher in Händen hielt, und preschte davon.
„Willst du den Behälter denn nicht öffnen und nachsehen, was darin ist?“, fragte Antoinette, die längst wieder als Mann verkleidet war.
Kopfschüttelnd schob ich die Röhre unter die Riemen meines Sattels.
Ich war auf einmal so müde. Die Jahrhunderte, die mich und Antoinette trennten, drückten wie ein ungeheures Gewicht auf meine Seele. Hier hatte ich nun den Auftrag. War er erledigt, musste ich zurückkehren und Antoinette für immer verlassen. Alles in mir sträubte sich dagegen.
Wir suchten uns eine kleine, saubere Herberge in der Stadt. Ich vertraute darauf, dass sich in meinem Auftragsmaterial Geld finden würde, mit dem wir die Miete bezahlen konnten.
Nach einem einfachen Abendessen, bei dem Antoinette nur lustlos auf ihrem Teller herumgestochert hatte, hockten wir trübsinnig in unserer Kammer.
Ich brach das Siegel auf und schüttelte den Inhalt auf das Bett.
Die meisten Papiere waren komplizierte Konstruktionszeichnungen, die sorgfältig auf Pergament gezeichnet waren. Bestimmt würde auch eine gründliche Überprüfung nicht verraten, dass sie im Jahr 2041 angefertigt worden waren.
Das Begleitschreiben dagegen war deutlich anspruchsloser:
„Auftrag der Kategorie A6, Relevanz 0-alpha, Priorität: Essenziell“, lautete die Kopfzeile. Mit anderen Worten: Die Durchführung hielt man für so wichtig, dass ich erst zurückkehren durfte, wenn der Auftrag vollständig ausgeführt war. Sollte ich scheitern, würde ein anderer Agent gesandt werden. Im Zweifelsfall würde man mich aus dem Weg räumen, um die Ausführung sicherzustellen.
Meine Chefs hielten das Gelingen des Vorhabens für so wichtig, dass ein Scheitern vermutlich verheerende Folgen für das 21. Jahrhundert haben würde.
Na, toll! Hätte man mich vorab informiert, hätte ich wenigstens eine gute Gehaltserhöhung herausschlagen können – oder zumindest eine Prämie.